November 1944. Paul Wegner, ein junger Vorarlberger Wehrmachtssoldat, wegen versuchter Fahnenflucht zum Tod durch Erschiessen verurteilt, entkommt der Exekution und flüchtet mit einem gefälschten Pass in die Schweiz. Einmal im vermeintlich sicheren Zürich angelangt, nimmt er wieder seinen richtigen Namen an. Doch die fremde Identität lässt ihn nicht los. Sie hängt wie ein Schatten über ihm, der alles um ihn herum in ein düsteres Zwielicht hüllt. Und da ist dieser geistesverwirrte ältere Herr mit seinen beiden Gefährtinnen, die in einer einsamen Gasse Pauls Weg kreuzen. Lidia, die jüngere der beiden, übt einen unwiderstehlichen Zauber auf ihn aus. Doch auch sie scheint ihn für jemand anderen zu halten. Ihm ist, als wäre er eine Marionette in einem Stück, das einzig für ihn inszeniert worden ist. Nach und nach begreift er, welchen Part er darin spielt und wer die Fäden hinter den Kulissen in der Hand hält.
»Meine Hinrichtung war für Dienstag, den 31. Oktober 1944, fünf Uhr morgens angesagt. Um halb vier holten sie mich aus dem Kerker. Um zehn vor vier baten sie mich zum Henkersmahl. Spiegelei mit Speck, mein Lieblingsfrühstück. Nach drei Bissen erbrach ich mich. Dem Pfaffen, der mit mir beten sollte, erzählte ich einen frivolen Witz. Er vergab mir. Um zwanzig nach vier fuhren wir los.«
Nachtfalters Tagtraum, die Geschichte um eine falsche, eine verlorene und eine verleugnete Identität, schlägt in einem mitreissenden Erzählstrom den Bogen von der kriegsverschonten Schweiz bis in die finstersten Winkel des damaligen Europas.
Erhard Stocker, 1951 geboren und in Luzern wohnhaft, studierte Übersetzung an der Universität Genf und arbeitete in der schweizerischen Bundesversammlung als Übersetzer. Nach seinem viel gelobten Debüt Marienseide, 2006, legt er nun mit Nachtfalters Tagtraum seinen zweiten Roman vor.